Doch es gibt wie immer im Leben auch eine andere Seite. Die der Fassungslosigkeit, wenn man wenige Tage alte Kitten aus einer Mülltonne befreit. Die Nächte, die sich Familie Kindt Fläschchen gebend um die Ohren schlägt. Die Resignation, wenn man feststellt, dass es eines der Kleinen es trotzdem nicht schaffen wird. Oder, wenn Herr Kindt ganz ehrlich ist, auch der Tag, an dem die mühsam aufgezogenen Katzenwelpen endgültig in ein schönes, neues Zuhause ziehen (und er „auf Grund wichtiger Termine“ bis heute manchmal verhindert ist). Auch wenn es schwer ist, beim Anblick der niedlichen Kitten im Aufzuchtzimmer auch nur einen negativen Gedanken zu entwickeln, so ist die Sache im Grunde sehr traurig. Denn die Aufzucht von Kitten bedeutet immer, dass irgendwann zuvor ein Mensch fürchterlich versagt hat. Weil er seine unkastrierte Katze rausgelassen hat. Weil er sein Tier nicht mehr wollte und aussetzte. Weil er sich einem Wurf Kitten auf einfache Art und Weise entledigte, indem er sie im wahrsten Sinne des Wortes wegschmiss.
Die Aufzucht von Kitten in der Station bedeutet immer, dass irgendwann zuvor ein Mensch fürchterlich versagt hat.
Harry Kindt hat in den vielen Jahren, die er schon mit Katzen zu tun hat, unzählige traurige Katzenschicksale erlebt. „Es wäre schön, wenn dieser Teil meiner Arbeit irgendwann überflüssig würde!“, sagt er, während er im Aufzuchtzimmer sitzt und einer kleinen schwarzen Kitte das Fläschchen mit Aufzuchtmilch in den Mund schiebt. All ihre Geschwister fressen schon selbst, doch das Kleine ist einfach noch nicht soweit. „Es sollte keine Katzen geben, die auf der Straße geboren werden! Und auch keine, die unkastriert sind.“, meint er. „Jede einzelne von ihnen ist das Opfer menschlicher Verantwortungslosigkeit! Auch dieses Kleine hier!“
Und Leben und Sterben auf der Straße ist alles andere als leicht. Die wenigsten Straßenkatzen schaffen es in die vorübergehende Obhut von aktion tier. Das wirkliche Elend findet im Verborgenen statt, wo Katzenbabys in dunklen Schuppen elendig verhungern, weil die Mutter überfahren worden ist, oder geplagt von schwerem Katzenschupfen ein Leben auf der Straße fristen müssen.
Deswegen geht es beim aktion tier Projekt "Kitty" und der Straßenkatzen-Babystation um so viel mehr als das Fläschchen geben und niedliche Kitten. Es geht um Informationsarbeit und darum, jeden einzelnen Besucher über das Thema Kastration und Katzenschutz aufzuklären. Es geht darum, Fragen zur Katzenhaltung zu beantworten und Hilfestellung zu leisten, damit die Tierheime nicht noch voller werden. Und es geht darum, mit falschen Gerüchten und der Bequemlichkeit so manchen Katzenhalters aufzuräumen. Denn die Informationsbeschaffung wird heute größtenteils über das Internet vollzogen – und das birgt Gefahren.
Schiffbruch mit (Stuben)Tiger: Vom Untergang in einer Welle aus Expertenmeinungen
Mit Falschaussagen und Bequemlichkeit wird Harry Kindt fast täglich konfrontiert. Meistens klingelt dann das Telefon in der Station, weil wieder jemand in den Wellen des Internets Schiffbruch erlitten hat. Und mit den Worten „Ich habe im Internet gelesen, dass…“ beginnt. Dann merkt auch Harry Kindt wieder einmal, dass man dem WorldWideWeb nicht entfliehen kann. Selbst, wenn man offline ist. „Eines der größten Probleme des Internets ist, dass sich jeder als ‚Experte‘ bezeichnen und dann seine Meinung kundtun kann.“, meint Kindt, während er die kleine Katze vorsichtig wieder auf den Boden zurücksetzt. Das Fläschchen ist leer getrunken, und sie tapst scheinbar zufrieden zurück zu den anderen. „Es gibt abertausende Foren in den Sozialen Netzwerken, in denen sich Menschen zusammenfinden, um sich über Katzen auszutauschen. Auch wenn sie noch nie eine hatten.“ Er steht auf und geht hinüber zu den beiden Katzentoiletten, um sie zu säubern. „Wissen Sie, es fragt ja im Internet niemand nach der Qualifikation. Sie stellen in so einer Gruppe eine Frage und erhalten zwanzig verschiedene Antworten! Oder Sie machen sich den Spaß und suchen bei Google nach >Meine Katze pinkelt in die Wohnung<. Sie erhalten 137.000 Treffer.“ Gekonnt schippt er mit der Schaufel die Klümpchen aus dem Streu. „Oft rufen die Leute dann völlig verunsichert bei uns an, weil sie einfach nicht mehr wissen, wem sie glauben sollen. Und weil das Problem trotz zahlreicher verschiedener Online-Ratschläge noch immer nicht gelöst ist!“
Die Kunst heute ist nicht mehr, sich Informationen zu beschaffen, sondern diese zu filtern.
Es ist kaum verwunderlich, ja fast vorprogrammiert, dass vielen Katzenhaltern im Informationswust des Internets der Überblick fehlt. Die Kunst heute ist nicht mehr, sich Informationen zu beschaffen, sondern diese zu filtern. Eben auf der Welle zu schwimmen, von der Bill Gates einst sprach. Wer das nicht schafft, erleidet Schiffbruch in den Wellen und strandet nicht selten bei Herrn Kindt.
Unglücklicherweise führt die große Bandbreite an Meinungen und Informationen nicht nur dazu, dass die Fragenden unsicher werden oder gar zu völlig falschen Mitteln greifen. Sie bewirkt auch, dass Falschaussagen sich rasend schnell verbreiten. In der Folge haben wieder zahlreiche Tierbesitzer das gleiche, eigentlich von ihren eigenen Ratschlägen verursachte Problem, über das sie dann wiederum in der Facebook-Gruppe diskutieren. Für die betroffene Katze jedoch ändert sich leider nichts.