Fast genau ein Jahr später, im Juni 2025, begann sein erstaunliches Abenteuer. Vinzenz zog es in den Norden Deutschlands, wobei er fast 1.600 Kilometer zurücklegte. Sein Flug führte ihn zunächst in die Oberpfalz, dann über Westdeutschland bis in die Niederlande. Dank eines GPS-Trackers, den Vinzenz bei sich trug, konnten Wissenschaftler seine Route genau verfolgen. Staunend beobachteten sie das außergewöhnliche Verhalten des Greifvogels, der normalerweise in Hochgebirgen beheimatet ist und eher selten in flacheren Regionen gesichtet wird.
aktion tier-Wildtierstation Rastede - Ein Bartgeier im Norden
Der Bartgeier Vinzenz sorgte für Aufsehen – nicht nur bei Naturliebhabern, sondern auch bei Vogelfachleuten. Ursprünglich stammt der beeindruckende Greifvogel aus dem Richard-Faust-Zentrum im österreichischen Haringsee. Im Rahmen eines europäischen Wiederansiedlungsprojekts wurde er am 29. Mai 2024 im Nationalpark Berchtesgaden in den Alpen ausgewildert.

Ein Vogel mit Geschichte
Der Bartgeier hat eine bewegte Vergangenheit. Früher wurde er fälschlicherweise als Lämmerfresser oder Kinderräuber verschrien, was dazu führte, dass er intensiv gejagt wurde. Seine Nahrung besteht hauptsächlich aus Knochen, die er mit seinem kräftigen Schnabel zerbricht. In den ersten Wochen seines Lebens ist er auf frisches Muskelfleisch angewiesen, doch später übernimmt er die Rolle des „Müllentsorgers“ in den Alpen. Er sorgt dafür, dass Tierkadaver und Knochenreste entfernt werden, was die Umwelt sauber hält und die Verbreitung von Krankheiten verhindert. Dank eines internationalen Wiederansiedlungsprojekts, an dem auch das Landesamt für Vogel- und Naturschutz in Bayern (LBV), der Nationalpark Berchtesgaden und der WWF Deutschland beteiligt sind, ist der Bartgeier heute wieder in den Alpen heimisch. Laut Fachexperten leben derzeit etwa 300 bis 350 Bartgeier in den Alpen, worunter auch 70 Brutpaare zu verzeichnen sind. Trotz der Erfolge wird die Art jedoch noch als gefährdet eingestuft. Die Geschichte des Bartgeiers zeigt deutlich, wie menschliche Eingriffe sowohl schädlich als auch schützend wirken können.
Ein ungewöhnlicher Gast im Norden
In Norddeutschland ist die Sichtung eines Bartgeiers äußerst selten und birgt Risiken für die Tiere. Da sie meist niedrig fliegen, sind sie besonders gefährdet durch Windkraftanlagen, die in der Region immer häufiger vorkommen. Im Jahr 2021 kam es in den Niederlanden sogar zu einem tödlichen Unfall: Ein Bartgeier namens Angèle kollidierte mit einer Windmühle und verunglückte tödlich. Glücklicherweise blieb Vinzenz von solchen Gefahren verschont. Ein Mitarbeiter vom LBV war der Route von Vinzenz gefolgt. Durch den regen Austausch und die breite Vernetzung zwischen Vogelexperten wurde auch die Wildtierauffangstation Rastede e.V. kontaktiert. Am Nachmittag des 16. Juni wurde der Greifvogel neben einer Landstraße in Bad Zwischenahn im Ortsteil Rostrup im Herzen des Ammerlandes gesichtet, eingefangen und in die Station gebracht.
Bei der Wildtierauffangstation e.V. in Rastede handelt es sich um von eine vom Land Niedersachsen anerkannte Wildtierauffangstation in der Nähe von Oldenburg. Doch so ein Gast wie Vinzenz war auch für die Station etwas ganz Besonderes.
Nach seiner Ankunft fand umgehend eine erste Eingangsuntersuchung bei einem befreundeten Tierarzt der Wildtierauffangstation, Dr. Wilken, statt. Der Allgemeinzustand des Vogels war bedenklich, da er während seines Flugabenteuers fast zehn Prozent seines Körpergewichts verloren hatte. Bei weiteren medizinischen Checks und Blutuntersuchungen, unter anderem auf bleihaltige Munitionsreste, die für Greifvögel eine große Gefahr darstellen, wurden keinerlei Verletzungen oder Auffälligkeiten festgestellt.
In der Wildtierauffangstation Rastede wurde Vinzenz mit viel Herzblut und Engagement wieder aufgepäppelt. Auch die Mitarbeiter vor Ort waren fasziniert und voller Freude und Leidenschaft, solch einen besonderen Patienten bei sich aufzunehmen.
Nachdem Vinzenz nach elf Tagen sein Normalgewicht wieder erreicht hatte und alle Blutwerte stabil waren, wurde er am 27. Juni 2025 von einem spezialisierten Transportunternehmen abgeholt und zurück in die Alpen gebracht. Schon einen Tag später wurde er im Nationalpark Berchtesgaden freigelassen und zeigte dabei seine gewohnten Flugeigenschaften und ein normales Verhalten. Sein derzeitiger Aufenthaltsort kann auf der Webseite des LBV (www.lbv.de) verfolgt werden.
Erfolge im Schutz gefährdeter Greifvögel
Vinzenz ist ein beeindruckendes Beispiel für die Erfolge und Herausforderungen bei der Wiederansiedlung gefährdeter Arten. Sein Flug in den Norden zeigt, wie flexibel und widerstandsfähig diese majestätischen Vögel sein können – und erinnert uns gleichzeitig an die Bedeutung des Schutzes ihres Lebens. Außerdem zeigt dieses Ereignis, wie großartig und wichtig eine intensive Vernetzung von Greifvogelexperten ist. Die Wildtierauffangstation ist nun neben der Projektgruppe Fischadler- und Seeadlerschutz Niedersachsen ebenfalls Mitglied des Bartgeierprojekts des bayerischen Naturschutzverbands LBV in Kooperation mit dem Nationalpark Berchtesgaden.
Bartgeier (Gypaetus barbatus)
Familie: Geier (Accipitridae).
Verbreitung: Südliche Alpen, Mittel- und Südeuropa, Nordafrika, Südasien, Gebirge in Afrika und Europa.
Größe: 1,70–2,80 Meter Spannweite.
Gewicht: 7–8 kg.
Merkmale: Mit einem auffälligen, langen, keilförmigen Schnabel, spitzem Bart aus braunen Federn, großen Flügeln und schwarzen Strichen um die Augen.
Lebensraum: Hochgebirge, Felsen und offene Bergregionen.
Nahrung: Hauptsächlich Knochen, die er aus großer Höhe herabwirft, um sie zu zertrümmern, sowie Aas und Knochenreste.
Bedrohung: Früher stark gefährdet, heute durch Schutzmaßnahmen stabilisiert, aber weiterhin bedroht durch Lebensraumverlust und Vergiftungen.
Besonderheit: Der einzige Vogel, der sich spezialisiert hat, Knochen zu zermahlen und zu fressen.