Haushunde

Der Angsthund - Eine ganz eigene „Rasse“

Wenn Sie sich entscheiden, einen sogenannten Angsthund bei sich aufzunehmen, können Sie sich von der normalen Vorstellung einer Hund- Mensch-Beziehung eigentlich schon mal verabschieden. Sie werden einen langen und steinigen Weg gehen, bis das Zusammenleben zwischen Ihnen und Ihrem Angsthund „normal“ wird.

Neben Geduld, Fingerspitzengefühl und dem nötigen Sachverstand wird Ihnen leider auch abverlangt, dass Sie die Häme und Vorurteile anderer Hundehalter werden aushalten müssen. Was Sie dafür bekommen? Sie dürfen miterleben, wie sich ein verloren geglaubtes Tierleben positiv verändert. Und Sie finden unter einem großen Berg aus Angst und Unsicherheit vielleicht am Ende den besten tierischen Partner, den Sie sich je hätten vorstellen können.

Angsthund kommt nicht freudig auf Sie zugelaufen, schleckt Ihnen das Gesicht ab und läuft fortan, ohne jemals Probleme zu machen, glücklich neben Ihnen durchs Leben. Nein. Es ist eher so, dass er sich niemals für Sie entschieden hätte, hätte er die Wahl gehabt. Er vertraut Ihnen kein Stück und wünscht sich, dass Sie so schnell wie Sie in sein Leben getreten sind, auch wieder verschwinden. Vom ersten Tag an werden Sie mit einem Angsthund vor Situationen stehen, die Sie sich vorher nicht haben vorstellen können. Wer denkt denn schon daran, dass nur weil Sie sich einen besonderen Hund anschaffen, Sie ab sofort die elektrische Zahnbürste im Schrank lassen kannst, weil der neue vierbeinige Lebensgefährte in Panik verfällt, sobald das Gerät läuft? Oder dass Sie vielleicht den Gürtel Ihrer Hose nur noch sitzend anziehen können, weil Ihr Hund sonst denkt, er wird verprügelt? Oder dass Sie Ihren heruntergefallenen Schlüsselbund fortan nur noch geräuschlos aufheben können, damit er nicht in Panik verfällt? Oder dass Sie nur noch Stoffbeutel benutzen werden, weil Plastik- oder Papiertaschen zu bedrohlich auf den Hund wirken?

Ja, ein Angsthund ist immer ein Überraschungspaket. Man weiß nie genau, was alles auf einen zukommen kann. Was man aber weiß: Dieser angespannte Zustand kann und soll nicht so bleiben. All diese vermeintlich gruseligen Alltagsgegenstände muss Ihr Hund kennenlernen, denn Sie möchten sich ja irgendwann wieder normal verhalten können, und Ihr Hund soll aus seinem Angstgefängnis befreit werden. Aber dazu muss die Handschrift der Vorbesitzer weg.

Im März 2021 nahm Patrice Krüger zwei ca. 1,5-jährige Kangal Mischlinge aus einem norddeutschen Tierheim auf. Die beiden Geschwister waren vom Tierschutzverein halb verhungert aus einem Bauwagen befreit worden, wo sie vermutlich von Welpenalter an eingesperrt gewesen waren. Danach warteten „Sina und Charly“ monatelang im Tierheim auf eine zweite Chance – bis Patrice sie adoptierte. Über die Vorgeschichte der Hunde ist ihr nicht viel bekannt, aber beide zeigten sich von normalen Alltagsdingen stark überfordert, da sie vermutlich (abgesehen von Hunger und Durst) in ihrem vorherigen Leben nichts kennengelernt hatten. Trotzdem es Geschwister sind, haben beide Hunde unterschiedliche Ängste (wie z.B. das Gehen durch Türrahmen, raschelndes Schreibpapier, laut zwitschernde Vögel, elektrische Zahnbürsten, im Auto mitfahren, Wasser usw.), machen unterschiedliche Fortschritte und reagieren differenziert auf neue Dinge. Beiden Hunden gerecht zu werden, war und ist eine große Herausforderung für Patrice. Aber mit Geduld, der nötigen Erfahrung und der gelegentlichen Unterstützung von Hundetrainern konnte Patrice ihren beiden Schützlingen schon eine große Portion Selbstvertrauen und Lebensqualität schenken.

Das Schwierigste zuerst: Vertrauen schaffen.

Also besteht Ihre erste Aufgabe darin, Vertrauen zu schaffen. In der Praxis bedeutet das eine Mischung aus normalem Alltagsverhalten und „auf rohen Eiern laufen“. Damit müssen Sie gleich zum Anfang die schwierigste aller Aufgaben meistern. „Vertrauen schaffen“ kann vieles bedeuten, das hängt ganz von Ihrem Hund ab. Es kann bedeuten, ab sofort nicht mehr zu laut sprechen, sich über gar nichts zu ärgern (sofern Ihr Hund in der Nähe ist), ruhig durchs Haus zu gehen, nichts fallen zu lassen und direkten Augenkontakt weitestgehend zu vermeiden. Ihr Hund hingegen lässt Sie in dieser wichtigen Phase möglicherweise nicht aus dem Auge, als wären Sie das Schlimmste, das er je gesehen hat. Er versucht Sie zu verstehen und studiert Sie mit seinen Blicken. Er studiert Ihre Verhaltensweisen, um sich ein Bild von Ihnen zu machen. Und das ist gut! Geben Sie ihm die Zeit, die er braucht, um Sie kennenzulernen. Er muss verstehen, dass Sie nicht so eine Katastrophe sind, wie die Leute, die einst einen Angsthund aus ihm gemacht haben.

Gut Ding muss Weile haben…

Also gehen Sie es nach und nach an. Elektrische Zahnbürste, Gürtel, knisternde Tragetasche, Schlüsselbund, Auto fahren, unterschiedliche Böden betreten, Vogelgeräusche und was da noch so Unverhofftes kommt. Man fängt bei Angsthunden nicht bei null an, sondern eher bei Minus 20. Ein vernünftiges Lehrbuch gibt es auch nicht, da fast alles aus Ihrem Bauch heraus passieren muss. Und wenn Sie es endlich geschafft haben, die ersten Probleme zu lösen und Ihr Hund Ihnen vertraut, sind plötzlich schon einige Monate oder gar ein Jahr vergangen. Bis dahin hat Ihr Angsthund vielleicht noch nicht einmal Sitz, Platz, Fuß und Aus gelernt. Und das nicht, weil der Hund zu „doof“ ist oder Sie zu unfähig, sondern weil es nichts Aufwändigeres gibt, als einen Angsthund „umzukrempeln“. Angst blockiert das Gehirn, und je tiefer die Angst sitzt, desto länger dauert es nun einmal, eine Veränderung herbeizuführen. Angsthunde müssen außerdem viel mehr lernen als andere Hunde. Und sie müssen alles in sehr viel kleineren Schritten lernen. Durch die ständige Angst fällt es diesen Hunden noch schwerer, Dinge zu verstehen und sie umzusetzen. Ein normal funktionierendes Hirn kann verschiedene Prozesse und Erfahrungen nach ein paar Wiederholungen abspeichern. Das ist bei einem von Angst geprägten Gehirn anders. Da gibt es nur Stress und jede Menge Chaos im Kopf.

Wie ich meinem Hund die Angst vor einem Blatt Papier nahm.

Eine typische Alltagssituation mit meinem Angsthund, wie ich sie erlebt habe: Ich habe mehrere Blätter Schreibpapier in meiner Hand und bin auf dem Weg zum Schreibtisch. Einer meiner beiden Hunde bekommt große Angst davor und will weglaufen. Ich muss mir also jetzt und sofort die Zeit nehmen, daran zu arbeiten. Ich setze mich zu ihm und lasse ihn Platz machen (das konnte er zu diesem Zeitpunkt schon). Ich berühre mit einer Hand sanft seine Schulter und mit der anderen das am Boden liegende Papier. Der Hund darf jetzt nicht von mir gestreichelt werden, das würde nur seine Angst fördern! Ich schiebe also das Papier etwas in seine Richtung, und noch bevor er zum Weglaufen aufstehen will (ich erkenne diesen Moment gut an den größer werdenden Augen und dem steifen Körper), ziehe ich es wieder zurück. Das wiederhole ich so oft, bis er sich etwas entspannt, dann erst lobe ich ihn. Dann erst kann ich einen kleinen Schritt weiter gehen: Ich schiebe das Papier jetzt so dicht an meinen Hund, dass er es mit seiner Pfote berührt und nehme es sofort wieder weg. Auch das mache ich so lange, bis er sich wieder etwas entspannt und lobe ihn.

Im nächsten Schritt lege ich das Papier auf sein Bein und nehme es wieder weg und wiederhole es, bis er es erträgt. Dann gibt es wieder ein Lob. Einmal üben reicht meist nicht aus, ich musste diese Übung jeden Tag wiederholen, bis das Papier für meinen Hund keine Bedeutung mehr hatte. Solche und ähnliche Übungen sind übrigens anstrengend für einen Angsthund, und man muss darauf achten, dass man ihn nicht überfordert. Und sie gelten nicht selten nur für das eine, in Rede stehende Stück Papier; die anderen Papiere, die anders aussehen oder andere Geräusche machen, sind wieder eine ganz neue Challenge.

Bei einem Hund ohne Angst würde die gleiche Übung übrigens ganz anders verlaufen: Er erschrickt vor dem Papier, Sie halten es ihm zum Beschnuppern hin, sagen ihm, dass alles gut ist – und das war´s im besten Fall. Das ist der große und auch zeitaufwendige Unterschied.

Was Hänschen nicht lernte… lernt Hans nur sehr schwer. Das gilt nicht nur für Papier. Mit Menschen ist es genauso. Nur weil Ihr Hund Ihnen jetzt vertraut, bedeutet das nicht, dass er verstanden hat, dass alle Menschen toll sind und keine Gefahr bedeuten. Bei manch einem Hund funktioniert das „Umstrukturieren des Hirns“ nach 20 oder 30 Blättern Papier, Zahnbürsten oder Menschen, bei anderen erst nach 1.000. Und das ist tatsächlich kein Scherz. Alles was Ihr Hund nicht in den ersten Monaten seines Lebens gelernt hat, wird er nur sehr mühselig später erlernen. Und wenn dann noch dazu kommt, dass er körperlichen und seelischen Grausamkeiten ausgesetzt war, wird die ganze Nummer noch komplexer.

Mit dem Unverständnis anderer muss man leider leben.

Dass die Transformation von einem Angsthund zu einem sich entspannt im Alltag bewegenden Vierbeiner längere Zeit braucht, können manch andere Hundehalter oft nicht verstehen. Sie verstehen nicht, weshalb Ihr Angsthund nicht so schnell lernen kann wie ihrer. Der konnte schließlich schon nach zwei Wochen Sitz und Platz! Aber sie vergessen leider dabei, dass Ihr Angsthund in zwei Wochen mehr lernen musste als ein „normaler“ Hund. Sie können es sich wahrscheinlich auch gar nicht vorstellen. Viele Hundehalter würden in zehn Jahren Hundehaltung nicht auf die Idee kommen, dass selbst das alltägliche Tischdecken mit klapperndem Besteck und Tellern eine große Herausforderung für ihren Hund sein könnte.

Vielleicht hilft ja dieser kleine Erfahrungsbericht dem einen oder anderen etwas besser zu verstehen, wie viel Zeit und Geduld es braucht, um aus einem geschundenen Tier einen alltagstauglichen, entspannten Begleiter zu machen und was für andere Wege man dafür gehen muss. Und dass es nicht fair ist, Herrchen und Frauchen von solch besonderen Hunden gleich zu verurteilen, wenn Dinge mit einem Angsthund eben nicht so schnell klappen. Eine Entscheidung, die bewusst getroffen werden muss. Nicht viele Menschen erklären sich bereit, das Unheil anderer in Ordnung zu bringen. Einen Hund mit besonderen Bedürfnissen aufzunehmen, kostet zudem sehr viel Zeit und wird Ihr Leben wahrscheinlich stark verändern. Das muss man wollen und händeln können – familiär, zeitlich und finanziell. Daher finde ich persönlich es völlig in Ordnung, die bewusste Entscheidung zu treffen und sich einen "ganz normalen" Hund anzuschaffen.

Geschwisterliebe: Die beiden sind mittlerweile zwei kräftige und mutige Hunde geworden.

Ein Hund bereichert immer das Leben!

Und wenn man sich einen Angst- oder Problemhund nicht zutraut oder das nicht ins eigene Leben passt, ist es überhaupt nicht verwerflich, einen gut sozialisierten Hund aufzunehmen.

Wenn Sie mich fragen, holen Sie bitte unbedingt einen Hund aus dem Tierheim, denn dort warten genügend auf eine zweite Chance, und die wenigsten bringen riesige Baustellen mit. Im Tierheim bekommen Sie eine ehrliche Beratung, die Mitarbeiter kennen die Tiere gut, und Sie werden mit ihrer Hilfe bestimmt den Hund finden, der zu Ihnen und zu Ihrem Leben passt. Jeder, der sich bewusst für einen Angsthund entschieden hat, wird mir sicherlich recht geben, wenn ich sage, dass sich diese Entscheidung und all die Zeit und Mühe lohnt. Zu sehen, wie Ihr Hund sich entwickelt, zu einer Persönlichkeit wird, Ihnen vertraut, Spaß am Leben findet und eine ganz besondere tiefe Bindung zu Ihnen aufbaut, ist einfach unbezahlbar. Ich persönlich kann es einfach nicht ertragen, wenn ein Hund die ganze Welt für schlimm hält und sich ständig in einem geistigen und seelischen Stresszustand befindet. Ich habe dann sofort das Bedürfnis, mich für die mir unbekannten Menschen, die ihm das angetan haben, zu entschuldigen und ihm die schönen Dinge des Lebens zu zeigen. Den Hund aus seinem Angstzustand herauszulocken und auf die schöne Seite des Lebens zu führen. Egal, was es kostet und wie lange es dauert.

An die Menschen, die auch solche besonderen Hunde aufgenommen haben

Vielen Dank dafür, und lassen Sie sich nicht entmutigen. Auch wenn Sie selbst mal das Gefühl haben in einer Sackgasse zu stecken oder wenn sich lange nichts verbessert. Machen Sie einfach weiter, denn es wird ganz sicher besser, und Ihr Hund hat es verdient, dass man sich um ihn kümmert. Vergessen Sie niemals, dass Angsthunde die aufwendigsten Hunde sind, die man aufnehmen kann und dass das niemand verstehen kann, der das nicht selbst erlebt und durchlebt hat. Denn Angsthunde sind eine ganz eigene „Rasse“.