Die Hunde waren bis dahin nahezu sich selbst überlassen, haben in Dreck und Enge miteinander leben müssen und Schlachtabfälle als Fressen bekommen. Das einzige was Ice kannte, bevor er ins Tierheim kam, war der Kampf ums Überleben.
Ice war so ziemlich alles, was ein Hundehalter sich nicht wünscht. Mangelernährt und in gesundheitlich schlechtem Zustand, unsozialisiert, verängstigt, nicht anzufassen, aber von großer Statur und in seiner Panik kaum kontrollierbar. Nach seiner Beschlagnahmung standen ihm gewiss viele Jahre im Tierheim bevor… vermutlich bis an sein Lebensende. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich das erste Mal in seinen Zwinger im Tierheim trat. Da versuchte er vor lauter Angst, die Gitter hinaufzurennen. Nicht gerade ein Hund, um den sich die Interessenten reißen. Ich kann mich an niemanden erinnern, der mir damals riet, diesen Hund zu übernehmen. Ice galt als nicht vermittelbar. Aber irgendwie wusste ich, dass wir zwei sehr gut zusammen passen würden, und ich hatte die Befürchtung, dass er sonst niemals ein gutes Zuhause haben und mit diesem schlechten Bild, das er von uns Menschen hatte, bis zuletzt leben wird. Ich setzte mich gegen die durchaus verständliche Skepsis der Tierheimmitarbeiter durch, und nach einer langen, langen Zeit, die wir benötigten, um Ice vom Zwinger ins entsprechend präparierte Auto zu buxieren, waren wir bereit zur Abreise in unser neues Leben. Es war die gefühlt längste Autofahrt an die ich mich erinnern kann, und ich kann nicht mehr zählen, wie oft sich Ice, der noch nie zuvor Auto gefahren war, währenddessen übergeben hat. Ich glaube, ich habe an jedem Rastplatz an der Strecke einmal gehalten.
Es war auch Zuhause unendlich schwierig für meinen jungen Hund, sich an die für uns normalsten Dinge des Lebens zu gewöhnen. Ich fütterte ihn zunächst aus der Hand, so gut es eben ging, weil Ice gar nicht wusste, wie man aus einem Napf frisst. Gassigehen war kaum möglich, zum einen weil seine Kondition wenig ausgeprägt war, zum anderen weil er vor wirklich allem Panik hatte. Vor Menschen, Türen, Autos, Leinen, Mülleimer, Zäunen, Geräuschen… Jeder Schritt war ein eine Herausforderung für Mensch und Hund.
Und dann sprang er über den Zaun...
So kam es, dass er am zweiten Tag, gerade als wir Gassi gehen wollten, im Garten durch ein Geräusch in Panik geriet, mir die Leine aus der Hand riss und panisch losrannte. Er verlor dabei das Halsband mit der Leine, sprang über einen zwei Meter hohen Zaun und war nicht mehr zu sehen oder zu hören. Ich suchte jeden Tag nach ihm und musste mir in dieser Zeit häufig anhören, dass man sich so einen Hund ja auch nicht aus dem Tierheim holt.
An Tag 16 meiner Suche wurde ich von einer Reiterin angesprochen, ich saß gerade mit einem Klappstuhl und Fernglas im Wald. „Sind Sie die Frau, die ihren Hund sucht“? Offensichtlich hatten meine Suchplakate und Zeitungsanzeigen ihre Spuren hinterlassen. Ich bestätigte dies, und die Reiterin erklärte, ein Hund käme seit Tagen jeden Tag zum Reiterhof. Ich fuhr mit dem Auto sofort Richtung Reiterhof. Dort angekommen, war Ice zwar nicht da, aber die Reithofbesitzer bestätigten mir, dass es sich bei dem Hund eindeutig um Ice handeln würde. Ich wartete Stunden um Stunden. Aber an diesem Abend kam er nicht. Am nächsten Morgen klingelte um 6 Uhr mein Handy – es war im Reiterhof. Als ich dort ankam, stand Ice da und wartete auf Futter. Ich näherte mich langsam, er fand das ziemlich doof und ließ mich nicht an ihn heran. Zwei Meter waren das höchste der Gefühle und das über einen Zeitraum von zwei Monaten. Er genoss die Freiheit und lebte nach seinen eigenen Regeln. Bis er plötzlich völlig verschwand. Eine Woche lang fand ich ihn nicht, und niemand rief an, der ihn gesehen hatte. Ich hatte Sorgen um ihn und machte mich auf den Weg ins Tierheim Potsdam. Ich dachte, vielleicht hat ihn ja doch jemand fangen können. Ich erklärte dort, dass ich meinen Ridgeback-Broholmer- Mix Rüden suchen würde.
Die Dame des Tierheims verneinte, doch ich konnte ihr gerade noch ein Foto unter die Nase halten. Sie nahm das Foto, verschwand kurz und bat mich dann hinein. Sie führte mich zu einem Zwinger in dem er saß. Einfach so. Nachdem wir ca. drei Monate mehr oder weniger im Wald zusammengelebt haben. Es war endlich vorbei. Wie kam es dazu? Er hatte den Wald verlassen und eine läufige Hündin getroffen und war ihr in den Zwinger gefolgt.