Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie Oma und ich vor dem Vogelkäfig im Wohnzimmer standen, durch die Gitterstäbe schauten, und uns daran erfreuten, wie liebevoll Charly an seiner Plastik-Susi knabberte. Susi war vermutlich nicht mal BPA-frei (Bisphenol A ist ein Grundbaustein des Kunststoffs Polycarbonat und kann das Hormonsystem stören), aber egal, es war so wahnsinnig niedlich wie er zwitscherte und mit ihr kuschelte und sich seines Lebens freute. Das dachten Oma und ich übrigens auch noch, als Charly schließlich starb. Dass er so ein schönes Leben hatte in seinem Käfig mit seiner Plastik-Susi.
Charlys Dasein war im Alter von acht Jahren beendet. Total „normal“, denn Wellensittiche in Gefangenschaft werden nun einmal nur halb so alt wie ihre wilden Artgenossen. Charlys Leben hatte auch sonst mit dem Leben seiner wilden Verwandten nicht viel gemein. Statt im großen Schwarm hauste Charly bei Oma in einem winzigen Käfig. Da stellte der immerhin regelmäßige „Aus-Flug“ im Wohnzimmer schon mal ein Highlight für das Vögelchen dar, auch wenn er dabei regelmäßig mit seinen Füßen in der bodenlangen Spitzengardine hängenblieb. Eine lebende Partnerin, mit der sich die Käfig-Einöde besser hätte ertragen lassen, blieb Charly zeitlebens versagt. Dafür versuchte er acht traurige Jahre lang verzweifelt, Plastik-Susi zur Kommunikation mit ihm zu bewegen.
Charly war übrigens Omas letztes Haustier. Sie, liebe Leser/innen, mögen jetzt aufatmen, aber für mich als Zehnjährige war das ein harter Schicksalsschlag. Doch das Leben ging überraschenderweise auch ohne Wellensittich für mich weiter. Und heute, 23 Jahre später, bin ich froh darüber, dass meine liebe Oma ihrer Fürsorge nach Charlys Ableben auf den Opa und die Enkelkinder konzentriert hat. Denn von einem artgerechten Leben konnte ein Vogel in ihrer Obhut maximal träumen.
Warum wusste es Oma nicht besser?
Ich habe Oma bei der Recherche zu diesem Artikel gefragt, warum sie offenbar nie darüber nachgedacht hat, ob Charly in seinem kleinen Käfig auch wirklich glücklich ist. „Das hab ich wohl!“, antwortete sie mir und kramte ein altes, abgegriffen wirkendes Buch aus den 80er Jahren hervor. Es handelte von Haustieren und wie man sie richtig hält. Und wenn man diesem Buch glaubt, hat Oma bei der Vogelhaltung in der Tat alles richtig gemacht: Käfig sauber gehalten, Plastikfreundin für Charly gekauft, regelmäßiger Freiflug in die Gardine ermöglicht. Eigentlich top. Damals jedenfalls. Heute wissen wir dank Forschung und der endlosen Wissensquelle Internet allerdings, dass das sicherlich nicht ausreicht, um einen Wellensittich glücklich zu machen. Wer glaubt, ein Vogel sei mit einem Plastikkameraden hinter ein paar Gitterstäben und einem Stündchen Freiflug am Tag artgerecht gehalten, der will es wohl nicht besser wissen.
Wider allen Wissens ist die Käfighaltung von Kleintieren auch heute, mehr als 20 Jahre nach Charlys Ableben, nicht nur legal, sondern für viele Tierbesitzer auch noch normal. Nicht nur Wellensittiche leiden still unter nicht artgerechter Haltung, auch Hauskaninchen, Hausmeerschweinchen, Hamster und sonstige Kleintiere fristen ein schnödes und unnatürliches Dasein in so mancher Zimmerecke.